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Kommentar: Plädoyer gegen eine „Mehrklassengesellschaft“ am Arbeitsmarkt

Schlechte Nachrichten vom Arbeitsmarkt sind in den vergangenen Jahren zur Gewohnheit geworden: Seit August 2011 wird in den österreichischen Tageszeitungen jedes Monat von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit berichtet. 2011 lag die Zahl der beim AMS vorgemerkten Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt „nur“ bei 246.702 Personen. Für 2015 erwartet das AMS durchschnittlich bereits 353.500 Arbeitslose und bis 2019 wird ein weiterer Anstieg auf fast 400.000 Arbeitslose im Jahresdurchschnitt erwartet. Wovon in den Medien seltener berichtet wird ist der Anstieg der sogenannten „langzeitbeschäftigungslosen Arbeitslosen“, also jener Menschen, die seit einem Jahr in verfestigter Arbeitslosigkeit befinden. Im August 2015 gab es mit 111.404 Personen fast doppelt so viele langzeitbeschäftigungslose Arbeitslose wie vor zwei Jahren. Damit ist bereits mehr als jeder dritte Arbeitslose in lange dauernder, verfestigter Erwerbsarbeitslosigkeit.

Parallel zum Anstieg der Arbeitslosigkeit sind die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik jedoch nicht in einem vergleichbaren Ausmaß von der Politik aufgestockt worden. Das Budget des AMS wuchs zwischen 2012 (971 Millionen Euro) und 2015 (1.140 Mill. Euro) um 17,4%. Die Zahl der Arbeitslosen stieg im selben Zeitraum mit 35,6% doppelt so stark – von 260.643 (Jahresdurchschnitt 2012) auf 353.500 (Prognose für 2015). 2016 ist hier trotz der Verlängerung und Ausweitung der Beschäftigungsinitiative 50+ keine Trendwende zu erwarten.

Fazit: Immer mehr Menschen sind ohne Job. Gleichzeitig sinken die Chancen auf einen schnellen beruflichen Wiedereinstieg. Das arbeitsmarktpolitische Budget ist jedoch nicht im nötigen Ausmaß gestiegen. Helmut Mahringer vom Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO bestätigte dies gegenüber dem ORF: „Wir haben mehr Arbeitslose und auch mehr Arbeitslose, die intensive Betreuung benötigen. Aus beiden Gründen wäre eine Erhöhung der (Mittel für die, Anm. d. A.) aktiven Arbeitsmarktpolitik sinnvoll.“

AMS auf neuen Wegen

Bisher war es das erklärte Ziel des AMS, das Risiko arbeitslos zu werden möglichst gleich zu verteilen. Durch Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik soll der Arbeitsmarkt in Bewegung gehalten werden. „Langzeitarbeitslosigkeit müssen wir scheuen. Uns ist viel lieber vier Menschen sind drei Monate lang arbeitslos als einer ein Jahr“ sagte AMS Vorstand Johannes Kopf im Juli 2015 der Tageszeitung Kurier. Derzeit konzentriert sich die Arbeitsmarktpolitik folgerichtig vor allem auf jene Gruppen, deren Integration in den Arbeitsmarkt am schwierigsten ist. So soll lange anhaltende Arbeitslosigkeit so weit wie möglich vermieden werden. Denn Langzeitarbeitslosigkeit führt nicht nur zu Armut und Ausgrenzung, sondern entwertet auch die Qualifikationen und Berufserfahrungen der betroffenen Menschen. Dadurch wird der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt selbst bei einer (derzeit nicht absehbaren) Verbesserung der Konjunktur erschwert.

Der aktuelle Anstieg der Langzeitbeschäftigungslosigkeit zeigt jedoch, dass es dem AMS immer weniger gelingt sein Ziel der „Verfestigung von Arbeitslosigkeit bzw. dem dauerhaften Ausschluss aus dem Erwerbsleben entgegen zu wirken“ zu erfüllen. Auch sozialökonomische Betriebe und gemeinnützige Beschäftigungsbetriebe aus unserem Netzwerk berichten, dass die Vermittlung von TransitmitarbeiterInnen in den ersten Arbeitsmarkt deutlich schwieriger geworden ist. Innerhalb des AMS wird ein Kurswechsel diskutiert: Für Personen mit guten und sehr schlechten Integrationschancen könnte es in Zukunft weniger Unterstützungsangebote geben, damit sich das AMS auf jene Zielgruppen fokussieren kann, die zwar Vermittlungshürden haben, aber bei denen nach ausreichender Unterstützung eine Integration in den Arbeitsmarkt noch realistisch erscheint.

Ein solcher Ansatz des AMS ist auf den ersten Blick verständlich. Es ist die Reaktion auf die unzureichende Finanzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik durch die Politik und der Versuch, das vorhandene Budget möglichst effektiv einzusetzen.

„Klassen-Modell“ in der Schublade

Ein derzeit im AMS diskutiertes Modell teilt seine KundInnen abhängig von ihren Integrationschancen und der ihnen zugeschriebenen, persönlichen Motivation in vier Gruppen auf:

  • Personen mit guten Chancen auf eine Integration in den Arbeitsmarkt und hoher Motivation, das sind rund die Hälfte der AMS-KundInnen, können sich selbst helfen und sollen über das Service für Unternehmen unterstützt werden.
  • Weitere 10 Prozent haben zwar gute Integrationsperspektiven, ein neuer Job scheitert allerdings aus AMS-Sicht am Willen. Für diese Gruppe sind keine Förderungen mehr vorgesehen. Das AMS setzt stattdessen auf Verbindlichkeit und eventuell Sanktionen.
  • 30 Prozent der KundInnen sind zwar hochmotiviert, haben aber mehrere Vermittlungshürden, die es abzubauen gilt. Für sie sollen ausreichend Zeit und Förderinstrumente zur Verfügung stehen.
  • Bei der vierten Gruppe treffen sich niedrige Motivation und geringe Chancen auf eine neue Beschäftigung. Mit diesen geschätzten 10 Prozent der KundInnen will das AMS den Kontakt deutlich reduzieren. Existenzsicherung wäre hier das vorrangige Ziel.

Ein solches Modell birgt die Gefahr, dass Menschen dauerhaft in „Schubladen“ gesteckt werden. Auch Personen, die bei der Suche nach Arbeit unzählige negative Erfahrungen gemacht haben, für sich selbst keine Perspektiven mehr sehen und versuchen sich mit dem Leben in „Arbeitslosigkeit zu arrangieren“ dürfen nicht aufgegeben werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sie bis zur Pension dauerhaft in Arbeitslosigkeit festsitzen und permanent von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen sind. Das darf nicht passieren.

Arbeit ist ein Menschenrecht

Es gibt keinen Grund auf eine nachhaltige Besserung der Wirtschaftslage und ein dauerhaftes Sinken der Arbeitslosigkeit zu warten. Um die Arbeitslosigkeit zu verringern bräuchte Österreich ein Wirtschaftswachstum von rund drei Prozent. Doch davon sind wir weit entfernt. Im Gegenteil: Abgesehen von kurzen Unterbrechungen steigt die Arbeitslosigkeit in Österreich seit dem Beginn der 1980er Jahre. Sowohl die Arbeitslosenquote als auch die absolute Zahl der arbeitslosen Menschen erreichen derzeit Werte, die es in der zweiten Republik noch nie gegeben hat. Tendenz weiter steigend.

Anstatt auf Wirtschaftswachstum zu warten müssen wir uns eine politische Frage stellen: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der Arbeitslosigkeit zu einem Massenphänomen geworden ist? Bruno Kreisky bereiteten ein „paar Milliarden mehr Schulden (…) weniger schlaflose Nächte als hunderttausend Arbeitslose.” Im August 2015 waren 327.145 Personen arbeitslos vorgemerkt und weitere 57.440 Personen befanden sich in Schulungen des AMS. Unter Kreisky wurde jedoch nicht nur durch ausgabenorientierte Wirtschaftspolitik Arbeitslosigkeit verringert, sondern auch durch die Verkürzung der Arbeitszeit. Zwischen 1970 und 1975 wurde die Wochenarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden verkürzt und 1977 der gesetzliche Urlaubsanspruch von drei auf vier Wochen ausgedehnt.

Damit niemand im Regen stehen gelassen wird braucht es neben der Wiederentdeckung der Arbeitszeitverkürzung und den bestehenden Angeboten Sozialökonomischer Betriebe und Gemeinnütziger Beschäftigungsprojekte auch eine gezielte Förderung von dauerhaften Arbeitsplätzen für jene Menschen, die derzeit aufgrund der Rahmenbedingungen keine Perspektive auf dem regulären Arbeitsmarkt mehr haben. Das „Recht auf Arbeit“ ist ein Menschenrecht. Nehmen wir es ernst.

Eine gekürzte Fassung dieses Kommentars ist in „Arbeitsmarktpolitik Aktiv 1/15“ erschienen.