Marie Jahoda: Arbeitslose bei der Arbeit – der kaum bekannte Nachfolger zur Marienthal-Studie

Marie Jahodas Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (gemeinsam mit Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel) gilt als Klassiker der empirischen Sozialforschung. Sie war die erste Studie, die sich näher mit den psychischen und sozialen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auseinander setzte. Weitgehend unbekannt ist hingegen die von der berühmten Sozialwissenschaftlerin nur wenige Jahre danach verfasste Nachfolgestudie „Arbeitslose bei der Arbeit“. Dies mag auch daran liegen, dass sie selbst aus persönlichen Gründen dieses Werk erst 50 Jahre später einer Veröffentlichung zustimmte. Für uns als arbeit plus ist diese Nachfolgestudie deshalb so spannend, weil sie eines der ersten Sozialen Unternehmen beschreibt. Wie danken Hedi Presch für ihren Tipp, der uns auf das Buch aufmerksam gemacht hat.

Marie Jahoda, 1947/48 (© AGSÖ, Graz)
Marie Jahoda, 1947/48 (© AGSÖ, Graz)

Marie Jahoda engagierte sich in der durch den austrofaschistischen Ständestaat verbotenen Sozialdemokratie. Nach einer Hausdurchsuchung wurde sie 1936 verhaftet und erst nach acht Monaten und zahlreichen internationalen Interventionen wieder freigelassen – unter der Bedingung Österreich zu verlassen. Im Englischen Exil wurde Jahoda bei der Suche nach einem neuen Forschungsauftrag unterstützt. Sie sollte ein von Quäkern initiiertes Selbsthilfeprojekt für arbeitslose Bergarbeiter im südlichen Wales erforschen. Dazu lebte sie zwischen November 1937 und April 1938 gemeinsam mit den Familien der Arbeitslosen und arbeitete selbst im Projekt mit.

Das walisische Eastern Valley in den 1930ern: ein niedergehendes Kohlerevier ohne Hoffnung

Big Pit, Blaenavon
Das heutige Big Pit National Coal Museum im südlichen Wales.
Die Gesellschaft im südlichen Wales war über mehrere Generationen von der Großindustrie und der sowohl beschwerlichen als auch gefährlichen Arbeit in den Kohlengruben geprägt. Der Niedergang der Kohlenindustrie ab 1921 führte zu massenhafter Arbeitslosigkeit und Abwanderung in der Region. Laut Jahoda waren 1935 rund 45 Prozent der männlichen Bevölkerung über 14 Jahren arbeitslos. Frauen waren fast gar nicht in bezahlter Erwerbstätigkeit. Mehr als ein Drittel der Arbeitslosen war langzeitarbeitslos. Der Anteil älterer Männer über 45 Jahren an den Arbeitslosen nahm in den folgenden Jahren laufend zu, da sie bereits zu alt waren, um sich wieder Hoffnungen auf eine neue Arbeit machen zu können.

Es ist nun schon Jahre her, daß die Arbeitslosigkeit begonnen hat, dem Leben im Tal ihren Stempel aufzudrücken. (…) Die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf den Lebensstandard und die allgemeine Einstellung der beschäftigungslosen Männer sind überall zu sehen. (…) Die übliche Haltung unter den Arbeitslosen könnte als Resignation beschrieben werden. Diese manifestiert sich als ein fast völliges Erlahmen jeglicher Eigeninitiative. (Jahoda 1989, 29-30)

30 Wochenstunden, Freiwilligkeit & Mitbestimmung im Betrieb

In diesen Rahmenbedingungen gründeten die Quäker 1935 ein Programm zur Bedarfsdeckungsproduktion („Subsistence Production Scheme“). Dieses sollte arbeitslosen Menschen eine sinnvolle Tätigkeit ermöglichen und durch selbst produzierte Güter ihren Lebensstandard verbessern. Die im Programm tätigen Arbeitslosen erhielten für ihre Arbeit keinen Lohn, sondern konnten die von ihnen selbst produzierten Güter zu unter dem Markt liegenden Preisen kaufen. Daneben bezogen sie weiterhin die reguläre Arbeitslosenunterstützung.

Die Teilnahme am Programm war freiwillig und die Arbeit sollte ohne Zwang und Druck geleistet werden. Grundsätzlich war eine wöchentliche Arbeitszeit von 30 Stunden als Ziel vorgegeben, doch geringere Anwesenheitszeiten hatten keine Konsequenzen auf die Menge, die im Rahmen des Programms eingekauft werden konnte.

Innerhalb des Programms galten alle TeilnehmerInnen als gleichwertig – unabhängig von ihrer Funktion und Leistungsfähigkeit. Organisatorische Entscheidungen wurden zwischen den Mitgliedern so lange diskutiert, bis alle Teilnehmer einer Lösung zustimmen konnten.

Zunächst arbeiteten im März 1935 nur acht Personen im Programm und renovierten als ersten Schritt eine stillgelegte Brauerei, die als zentraler Stützpunkt dienen sollte. In den nächsten Jahren wuchs die Zahl der TeilnehmerInnen – trotz beträchtlicher Widerstände – auf 377 Personen im Jänner 1938. Das Programm konnte so zahlreiche neue Tätigkeitsbereiche erschließen.

Ein Teil der im Jänner 1938 produzierten Waren. (Jahoda 1989, 44)

Ein zwiespältiges Resümee

Jahoda kam in ihrer Studie zu einem zwiespältigen Ergebnis. Das Programm hatte mit Missbrauch (illegaler Weiterverkauf der hergestellten Waren sowie Diebstahl), niedriger Produktivität, der Verschwendung von Material und hohen Kosten zu kämpfen. Gleichzeitig gelang es ihm aus Sicht von Jahoda nicht, die gegenwärtige Wirtschaftsordnung positiv zu verändern.

(Das Subsistence Production Scheme) ist ein heroischer Versuch, bei einem Problem den richtigen Hebel anzusetzen. Heroisch, weil seine Mittel ungenügend sind und der Versuch von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Unter den gegenwärtigen sozialen Bedingungen wird kein Experiment ähnlicher Art jemals in der Lage sein, die Gesamtgesellschaft zu beeinflussen. (Jahoda 1989, 127)

Trotz dieser Probleme hat es das Subsistence Production Scheme jedoch erfolgreich geschafft, die Nöte der arbeitslosen Teilnehmer und ihrer Familien zu lindern. Sie hatten Zugang zu mehr und höherwertigen Gütern, als sie am Markt hätten kaufen können. Ein Beispiel dafür ist der Zugang zu Milch: Während Familien der ProgrammteilnehmerInnen frische Milch konsumieren konnten, wurde in anderen Familien vor allem Dosenmilch verwendet. Außerdem sah Jahoda positive Wirkungen auf die Gesundheit und die emotionale Verfassung der Teilnehmer.

Ich habe nicht mehr Geld in der Tasche, aber mein Tisch ist besser gedeckt, und ich habe etwas, das mich beschäftigt hält. (Aussage eines Teilnehmers in Jahoda 1989, 55)

Wieso wurde „Arbeitslose bei der Arbeit“ erst 50 Jahre später veröffentlicht?

Auf den ersten Blick ist schwer nachzuvollziehen, wieso die „Arbeitslose bei der Arbeit“ erst nach 50 Jahren veröffentlicht wurde. Nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland war Jahodas jüdische Familie in Wien in großer Gefahr und konnte erst mit Hilfe von James Forrester, dem Initiator des Quäker-Projektes in Wales, ausreisen. Wenig später kam Jahoda in ihrer Studie zu einem zwiespältigen Resümee über das Subsistence Production Scheme. Forrester sah durch dieses Ergebnis sein gesamtes Lebenswerk bedroht, worauf Jahoda auf eine Veröffentlichung der Studie verzichtete. „Arbeitslose bei der Arbeit“ wurde schlussendlich erst 1987 in England veröffentlicht.

Buchtipp: Nun auch Jahodas Dissertation veröffentlicht

Vor wenigen Tagen wurde nun auch Jahodas Dissertation „Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930. Dissertation 1932“ erstmals veröffentlicht. Die Studie beruht auf den umfassend protokollierten Lebensgeschichten von rund 50 ArbeiterInnen – zu einer Zeit, als die akademische Welt nur über ArbeiterInnen gesprochen hat, aber niemals mit ihnen.

Weitere Informationen, eine Leseprobe sowie die Bestellmöglichkeit findet sich auf der Website des Jahoda-Bauer-Instituts.

Quelle

  • Marie Jahoda (1989). Arbeitslose bei der Arbeit. Die Nachfolgestudie zu „Marienthal“ aus dem Jahr 1938. Campus Verlag / Frankfurt am Main.