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Kommentar: „Ein explosives Gesamtpaket in der Arbeitsmarktpolitik“

Die bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) ist das letzte soziale Sicherheitsnetz in Österreich. Mit dem neu vorgelegten Grundsatzgesetz zur Reform der Mindestsicherung werden nun immer mehr Voraussetzungen und Hürden eingebaut. Das konterkariert das eigentliche Ziel dieser Fürsorgeleistung, nämlich das Ziel einer minimalen Existenzsicherung für ein würdevolles Leben.

AMS-Budget sinkt von 2017 auf 2019 um 20 Prozent

Die Einschnitte in die Mindestsicherung werden damit rechtfertigt, dass sie mehr „Anreize zur Arbeitsaufnahme“ schaffen würden. Wir wissen allerdings durch die Erfahrungen in den Sozialen Unternehmen, dass Menschen arbeiten wollen. Aber nicht alle schaffen es zu den Bedingungen, die der Arbeitsmarkt bietet. Arbeitslosigkeit ist in erster Linie ein strukturelles Problem und kein individuelles Verschulden, das durch höheren Druck gelöst werden kann. Deshalb braucht es Angebote der aktiven Arbeitsmarktpolitik, Sprachkurse, Beratungen & Qualifizierungsmaßnahmen. Aber genau hier spart die Regierung, indem sie die dafür vorgesehenen Budgets des Arbeitsmarktservices kürzt. Das Budget des AMS wird im Jahr 2019 um 20 Prozent niedriger ausfallen als noch 2017. Das ist zu einem größeren Teil auf die Kürzung der Aktion 20.000 zurückzuführen, betrifft aber auch andere Maßnahmen, wie die Finanzierung von Sozialen Unternehmen, Deutschkursen und Schulungen.

Arbeitsaufnahmen steigen mit dem Grad der sozialen Infrastruktur, nicht durch Druck & Kürzungen

Judith Pühringer ist Geschäftsführerin von arbeit plus

Dem Argument der erhöhten Arbeitsaufnahmen, muss entgegengehalten werden, dass es dazu keine validen Studien gibt. Wer Sozialleistungen kürzt, bekämpft keine Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: Wir wissen, dass Menschen, die unter Druck geraten und ohne Existenzgrundlage sind, es noch schwerer haben am Arbeitsmarkt einen Fuß zu fassen. Ihnen fehlen oftmals Basiskompetenzen und Qualifikationen oder sie haben vorgelagerte Probleme, die durch sozialpädagogische Begleitung gelöst werden können. Daher muss auch hier immer der Konnex zu einer ausreichend finanzierten aktiven Arbeitsmarktpolitik hergestellt werden, die Menschen dazu befähigt selbstbestimmt zu leben, Qualifizierungen nachzuholen, Arbeit zu finden und sie zu halten. Zusätzlich weisen zahlreiche Expert*innen darauf hin, dass Arbeitslosigkeit dort sinkt, wo soziale Infrastruktur und Dienstleistungen in ausreichendem Maße vorhanden sind. Das betrifft insbesondere den Zugang zu und die Leistbarkeit von Mobilitätsleistungen und von Kinderbetreuung sowie die spezifischen Rahmenbedingungen einer Beschäftigung (insbesondere die Arbeitszeiten!).

Ein weiteres Argument, das häufig ins Spiel gebracht wird, um eine niedrigere Mindestsicherung zu rechtfertigen, ist der geringe Abstand zu einem Lohneinkommen. Die Regierung hat sich entschieden, dies allein als Problem der Höhe der bedarfsorientierten Mindestsicherung zu definieren. Dabei wird vollkommen ausgeklammert, dass immer mehr Menschen in Österreich von ihrem Einkommen nicht leben können (und mit der Mindestsicherung „aufstocken“) und dass es Einkommen gibt, die sogar bei einer Vollzeittätigkeit die Armutsgefährdungsschwelle von etwa 1.200 Euro nur noch geringfügig übersteigen (Die Armutsgefährdungsschwelle eines 1-Personen-Haushalt liegt 2017 bei 1.238 Euro/Monat). Eine ehrliche Diskussion rund um die Mindestsicherung, darf das Problem der sogenannten „Aufstocker*innen“ sowie von nicht-existenzsichernden Einkommen in Österreich nicht ausklammern.

Gesamtpaket drängt benachteiligte Menschen an den Rand des Arbeitsmarkts

Zuletzt ist es wichtig, die jetzigen Einschnitte in die Mindestsicherung als explosives Gesamtpaket zu verstehen. Sie wirken nicht losgelöst von den angekündigten Änderungen im Rahmen des Arbeitslosengeldes NEU, der Abschaffung der Notstandshilfe, den Kürzungen der Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik, strengeren Sanktionen oder der Verschärfung von Zumutbarkeitsbestimmungen bei Arbeitssuchenden. Auch die „Segmentierung“, also die Einteilung von arbeitslosen Menschen nach ihren Chancen am Arbeitsmarkt schlägt in diese Kerbe: Menschen mit schlechten Aussichten drohen weniger Angebote und Förderungen zu erhalten, Arbeitslosigkeit wird als individueller Makel verstanden und benachteiligte Menschen werden weiter an den Rand des Arbeitsmarkts gedrängt. Die Absicht der Regierung, die Notstandshilfe in das „Arbeitslosengeld zu integrieren“, kommt wiederum einer defacto Abschaffung der Notstandshilfe – einer Versicherungsleistung – gleich. Dies würde mit einem Schlag 120.000 Menschen in Österreich treffen und dazu führen, dass sie nach einer längeren Arbeitslosigkeit direkt in eine nun verschärfte Mindestsicherung rutschen. In diesem Gesamtpaket erkennen wir große Parallelen zu den Maßnahmen, die im Rahmen der Hartz-Gesetze in Deutschland eingeführt wurden und warnen davor, in Österreich diesen Weg Richtung HartzIV einzuschlagen.

Sozialstaat ausbauen und in aktive Arbeitsmarktpolitik investieren

Was aus Sicht der Sozialen Unternehmen dringend notwendig wäre, sind gute sozialstaatliche Rahmenbedingungen, auf die die Menschen vertrauen können. Die Mindestsicherung muss als letztes Sicherheitsnetz für ein würdevolles Leben, intakt bleiben und Perspektiven bieten. Aber auch die Notstandshilfe muss als Versicherungsleistung, in die die Menschen eingezahlt und vertraut haben, beibehalten werden. Positiv sehen wir die Überlegungen der Regierung, das Arbeitslosengeld zu erhöhen. Wichtig sind aber auch Investitionen in die aktive Arbeitsmarktpolitik, ein verstärktes Angebot an Qualifizierungsmaßnahmen und Deutschkursen sowie Investitionen in die Ressourcen des AMS, um arbeitslose Menschen besser unterstützen zu können. Außerdem sollten wir eine ehrliche und offene Debatte über die Zukunft der Arbeit und den Stellenwert von existenzsichernder Arbeit führen. Soziale Unternehmen bieten langzeitarbeitslosen Menschen zumindest für bis zu einem Jahr existenzsichernde Beschäftigung. Dieses Instrument sollte erhalten und weiter ausgebaut werden, damit Menschen auch längerfristig und dauerhaft einen Job erhalten.

 

Wissenswertes: 

  • Was ist der Unterschied zwischen Mindestsicherung und Notstandshilfe?
    Unterschiede Notstandshilfe – Mindestsicherung, Quelle: arbeit plus

    Der Hauptunterschied ist vor allem, dass die Mindestsicherung eine Fürsorgeleistung und die Notstandshilfe eine Versicherungsleistung ist. Weitere Unterschiede sind, dass in der Mindestsicherung keine Pensionsversicherungszeiten angerechnet werden – dadurch droht im Alter Altersarmut. Außerdem konnte bislang bei der Mindestsicherung nichts dazuverdient werden – Einkommen aus geringfügiger Beschäftigung werden voll auf die Mindestsicherung angerechnet. Neu – und begrüßenswert ist, dass nun ein Freibetrag von bis zu 35 Prozent des Nettoeinkommens möglich sein wird. Bei der Notstandshilfe muss eine Notlage nachgewiesen werden, Ersparnisse können aber behalten werden. Bei der bedarfsorientierten Mindestsicherung müssen Menschen ihre gesamten Ersparnisse bis zu einem Schonvermögen von bislang 4.200 (Neu: 5.200 Euro) aufbrauchen.

  • Welche Gruppen wären von Kürzungen in der sozialen Absicherung betroffen?
    Von einer Streichung der Notstandshilfe sowie der Reform des Arbeitslosengelds besonders betroffen wären ältere Menschen, Personen ohne Berufsausbildung oder mit gesundheitlichen Problemen. Alle diese Gruppen sind besonders häufig von Langzeitbeschäftigungslosigkeit betroffen und damit auch Bezieher*innen der Notstandshilfe. Die Streichung der Notstandshilfe würde ihre Lebenssituation deutlich verschlechtern, während die Kürzung des AMS Förderbudgets ihnen gleichzeitig Perspektiven raubt.
  • Was ist HartzIV und welche Auswirkungen hatte es in Deutschland?
    In Deutschland wurde mit den Hartz-Gesetzen der Arbeitsmarkt dereguliert, Sanktionen für arbeitslose Menschen weiter verschärft und gesetzliche Regelungen für Ein-Euro-Jobs, befristete Jobs und andere atypische Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. Heute sind in Deutschland so viele Menschen wie noch nie zuvor beschäftigt und auch die Zahl der langzeitarbeitslosen Menschen konnte verringert werden. Doch an der Abhängigkeit vieler dieser Menschen von Transferleistungen hat sich nichts verändert, da mit Hartz IV der Niedriglohnsektor ausgebaut und eine neue Gruppe von „arbeitenden Armen“ geschaffen worden ist. Aus armen Arbeitslosen wurden arme Erwerbstätige gemacht:

    • Zwischen 2005 und 2016 hat sich der Anteil der Working Poor in Deutschland von 4,8 Prozent auf 9,5 Prozent beinahe verdoppelt. (Eurostat)
    • 71 Prozent der arbeitslosen Menschen sind in Deutschland armutsgefährdet. Das sind um dreißig Prozentpunkte mehr, als rund um die Einführung von Hartz IV im Jahr 2005. Nach einem beispiellosen Anstieg weist Deutschland damit den mit großem Abstand schlechtesten Wert innerhalb der Europäischen Union auf. Zum Vergleich: In Österreich sind „nur“ 47 Prozent der arbeitslosen Menschen armutsgefährdet. (Eurostat)
    • Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist seit der Einführung von Hartz IV gewachsen und nun mit 22,5 Prozent einer der größten innerhalb der EU. In Österreich erhalten 14,8 Prozent der Angestellten einen Niedriglohn. (Eurostat)
    • Hartz IV sollte für erwerbsarbeitslose Menschen den Existenzdruck erhöhen – als „Anreiz“ um eine neue Beschäftigung anzunehmen. Dennoch ist in Deutschland der Anteil der langzeitarbeitslosen Menschen an den Arbeitslosen insgesamt deutlich höher als in Österreich