bdv austria präsentiert Positionspapier zur Reform der Invaliditätspension

In den vergangenen Monaten hat bdv austria an der Erstellung eines Positionspapiers zur Novellierung der Invaliditätspension gearbeitet. Wir unterstützen zwar den Grundsatz, dass die medizinische und berufliche Rehabilitation Vorrang vor der I-Pension haben soll. Allerdings ist diese Reform keine Lösung für wichtige Probleme des Arbeitsmarktes. Es braucht daher noch ein klares Bekenntnis zu den sozialen und politischen Zielen des Vorhabens, um eine entsprechende Ausgestaltung der Maßnahmen sicherzustellen.

Präambel

bdv austria unterstützt die grundlegenden Ziele der IP-Neu und den Grundsatz, dass die medizinische und berufliche Rehabilitation Vorrang vor der Invaliditätspension haben sollen.

Es handelt sich um ein entscheidendes Reformvorhaben, das – bei entsprechender Umsetzung der begleitenden Maßnahmen – zu einer hohen Erwerbsbeteiligung und der Ermöglichung von existenzsichernder und sinnstiftender Beschäftigung für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen beitragen könnte.

Gleichzeitig ist die Reform der I-Pension keine alleinige Lösung für wichtige Probleme des Arbeitsmarktes.

Es gibt schon seit Jahren ein chronisches Defizit an geeigneten Arbeitsplätzen für gesundheitlich beeinträchtigte Menschen. Zudem gibt es eine steigende Zahl von Menschen, die trotz ausreichender Qualifikation und Motivation von ArbeitgeberInnen weniger akzeptiert werden wie z.B. ältere oder gesundheitlich beeinträchtigte Menschen. Ein ausschließlich aktivierender Ansatz in der aktiven Arbeitsmarktpolitik kann diese Probleme nicht lösen, da viele dieser Menschen nicht mehr in den regulären Arbeitsmarkt integriert werden können.

Ein Bekenntnis zu den sozialen und politischen Zielen des Reformvorhabens ist dringend nötig, um eine entsprechende Ausgestaltung der Maßnahmen sicherzustellen.

Die Reform der I-Pension muss mehr sein als ein weiterer Baustein der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Sie muss zu einer Verbesserung der finanziellen, sozialen und psychischen Situation der Betroffenen beitragen und ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen – entweder durch existenzsichernde und sinnstiftende Beschäftigung oder durch angemessene Sozialleistungen.

Forderungen des bdv austria

Die Reform der Invaliditätspension muss für gesundheitlich beeinträchtigte Menschen den Zugang zu Sozialleistungen und ihnen – soweit dies gesundheitlich möglich ist – eine existenzsichernde und sinnstiftende Beschäftigung ermöglichen. Die folgenden Vorschläge sind wichtige Bausteine, um dieses Ziel Wirklichkeit werden zu lassen.

1. Existenzsichernde und sinnstiftende Beschäftigung für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen

1.1. Welche Arbeitsplätze werden benötigt?

Von gesundheitlichen Problemen betroffene Menschen sollen einen Anspruch auf hochwertige Beschäftigung in Sozialen Unternehmen mit einer marktüblichen kollektivvertraglichen Bezahlung erhalten. Der öffentliche Dienstleistungssektor könnte als erweiterter Arbeitsmarkt für diese Zielgruppe ausgebaut werden.

Unsere Gesellschaft muss Menschen mit gesundheitlichen Problemen angemessene und menschenwürdige Arbeitsplätze mit marktüblicher Bezahlung anbieten können – in Unternehmen ebenso wie im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen.

1.2. Wie könnten neue Arbeitsplätze für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen geschaffen werden?

Die angespannte Situation am Arbeitsmarkt erschwert die Reintegration von Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen. Die Frage ist, ob genügend Arbeitsplätze für im Rahmen der IP-Neu umgeschulte und rehabilitierte Menschen vorhanden sind. Gleichzeitig sollte die Umschulung von am Arbeitsmarkt völlig chancenlosen Menschen vermieden werden. Ein passendes Anreizsystem, welches die Beschäftigung von gesundheitlich beeinträchtigten und langzeitarbeitslosen Menschen fördert, wäre ein großer Schritt vorwärts. Auch die öffentliche Beschaffung sollte in stärkerem Ausmaß als sozial-, arbeitsmarkt- und umweltpolitisches Instrument wahrgenommen und genutzt werden. (Ein Bonus-Malus-System für ältere Beschäftigte wird durch die Sozialpartner ausgearbeitet und soll in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden.)

Als weitere Maßnahme sollten in Sozialen Unternehmen zahlreiche neue Arbeitsplätze für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen geschaffen werden – besonders für jene, die beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt mehr Betreuung und Unterstützung benötigen oder nur teilleistungsfähig sind. Dabei braucht es vor allem länger andauernde Beschäftigungsmöglichkeiten – sowohl mit flexiblen Übergängen zwischen geförderten und nicht geförderten Beschäftigungsmodellen, als auch zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigung, wobei jedoch sichergestellt werden muss, dass mit einer Ausdehnung der Arbeitszeit keine finanziellen Nachteile verbunden sind.

Wir müssen neue Arbeitsplätze für Menschen mit gesundheitlichen Problemen schaffen. Ein Anreizsystem zur Beschäftigung dieser Menschen wäre ein erster Schritt, es braucht aber auch neue Arbeitsplätze in Sozialen Unternehmen – für jene Menschen, die beim Wiedereinstieg mehr Unterstützung benötigen.

1.3. Nur ein ganzheitlicher Ansatz kann zu nachhaltigen Lösungen im Sinne der betroffenen Menschen führen.

Beratungs- und Betreuungseinrichtungen im arbeitsmarktpolitischen Bereich müssen von ihren AuftraggeberInnen in die Lage versetzt werden, flexibel auf die individuelle Situation ihrer KlientInnen eingehen zu können. Das Ziel der Maßnahmen für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen muss die Verbesserung ihrer finanziellen, sozialen und psychischen Situation sein und ihnen ermöglichen, sich im Leben wieder nach vorne zu orientieren. Der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt soll in Folge ein mögliches Ergebnis dieses Prozesses sein. Er darf jedoch nicht das einzige Kriterium für eine erfolgreiche Durchführung der Maßnahme sein.

Die meisten unserer KlientInnen haben vielseitige Probleme beim (Wieder-) Einstieg in den Arbeitsmarkt. Unser Ziel muss daher zuerst die Verbesserung ihrer finanziellen, sozialen und psychischen Situation sein – nach dieser Stabilisierung kann der Wiedereinstieg in Arbeitsmarkt als Ziel gesetzt werden.

1.4. Armutsfallen verhindern und flexible Übergänge zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen

Es muss für eine ausreichende finanzielle Absicherung von jenen Personen gesorgt werden, die trotz erfolgreicher medizinischer und / oder beruflicher Rehabilitation keiner existenzsichernden Beschäftigung mehr nachgehen können. Dies wäre beispielsweise durch angepasste Modelle wie den Kombilohn, die Eingliederungsbeihilfe oder andere Lohnergänzungen möglich.

Vergleichbare Modelle sind auch gefragt, um BezieherInnen von Transferleistungen einen flexiblen Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen, ohne dadurch finanzielle Einbußen oder den Verlust von sozialrechtlichen Ansprüchen in Kauf nehmen zu müssen. Dies wäre beispielsweise für TeilnehmerInnen niederschwelliger Beschäftigungsprojekte mit stundenweiser Beschäftigung wichtig, um einen langsamen Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Auch für BezieherInnen der bedarfsorientierten Mindestsicherung, die mehrere Personen versorgen müssen und am Arbeitsmarkt nicht in der Lage sind, ein vergleichbares Erwerbseinkommen zu erwirtschaften, sind neue Lohnergänzungsmodelle dringend nötig.

Um arbeitslose Menschen optimal beim (Wieder-) Einstieg in den Arbeitsmarkt unterstützen zu können brauchen wir möglichst flexible Übergänge zwischen Arbeitslosigkeit, geförderter Beschäftigung und ungeförderter Beschäftigung. Dafür müssen auch die bestehenden Zuverdienstregeln angepasst werden.

2. Welche Angebote gibt es für Menschen, denen der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt nicht gelingt?

2.1. Für ungelernte Beschäftigte braucht es einen verbesserten Zugang zur Invaliditätspension falls eine existenzsichernde Beschäftigung am Arbeitsmarkt nicht mehr möglich ist.

Derzeit haben Personen ohne Berufsschutz – selbst mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen – keinen Zugang zur Invaliditätspension, solange sie theoretisch noch die Hälfte des niedrigst denkbaren Vollzeit-Arbeitslohns erwerben können. Für diese Menschen sollte der Zugang zur Invaliditätspension erleichtert werden: Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage sind, 80% des niedrigst denkbaren Einkommens oder zumindest ein Einkommen in Höhe der Ausgleichszulage zu verdienen, sollten Anspruch auf Rehabilitation erhalten und damit auch Zugang zur Invaliditätspension, falls eine berufliche Rehabilitation nicht (mehr) sinnvoll erscheint.

Aus unserer Sicht sollten alle Menschen Zugang zur Invaliditätspension erhalten, die aus gesundheitlichen Gründen keiner existenzsichernden Beschäftigung mehr nachgehen können.

2.2. Es braucht dauerhaftere Modelle geförderter Beschäftigung für Menschen, die am Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass vielen gesundheitlich beeinträchtigen Menschen auch nach medizinischen oder beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen kein nachhaltiger Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt gelingen wird. Diesen Menschen müssen alternative Beschäftigungsmöglichkeiten in einem erweiterten Bereich des Arbeitsmarktes oder ein Zugang zur Invaliditätspension angeboten werden. Soziale Unternehmen erfüllen für arbeitsmarktferne Menschen seit Jahren eine Brückenfunktion in den ersten Arbeitsmarkt. Auch für gesundheitlich beeinträchtigte Menschen, denen der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt (vorerst) nicht gelingt, sollten zahlreiche neue Arbeitsplätze im sogenannten zweiten und dritten Arbeitsmarkt geschaffen werden. Diese Arbeitsplätze sollten sowohl eine längerfristige Beschäftigung, als auch flexible Übergänge zwischen verschiedenen Formen geförderter und nicht geförderter Beschäftigung ermöglichen.

Für Menschen, denen der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt nicht gelingt, müssen dauerhaftere Arbeitsplätze in Sozialen Unternehmen geschaffen werden – mit möglichst flexiblen Übergängen zwischen verschiedenen Formen geförderter und nicht geförderter Beschäftigung.

3. Einsparungen durch die IP-Neu für maßgeschneiderte Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote nutzen

3.1. Es braucht ein Aus- & Weiterbildungsgeld für alle betroffenen Menschen.

Beschäftigte mit Berufsschutz erhalten durch die IP-Neu Anspruch auf Umschulungsgeld und eine Umschulung auf ihrem Qualifikationsniveau. Ungelernte Beschäftigte haben nur Anspruch auf medizinische Rehabilitation, obwohl gerade sie enorm von Weiterbildung bei ihrer Reintegration in den Arbeitsmarkt profitieren könnten.

bdv austria fordert die Einführung eines Aus- und Weiterbildungsgeldes für alle Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

3.2. bdv austria fordert eine Bildungsoffensive für Menschen mit geringer formaler Ausbildung.

In den kommenden Jahren werden zahlreiche Arbeitsplätze für Menschen ohne formale Ausbildung ersatzlos verloren gehen. Schon jetzt sind Menschen mit formalen Qualifikationen unterhalb eines Lehrabschlusses deutlich öfter und länger von Arbeitslosigkeit betroffen als andere Bildungsgruppen. Wir setzen uns deshalb für eine Qualifizierungsoffensive für Menschen mit geringen formalen Ausbildungen ein. Die Einsparungen aus der Reform der Invaliditätspension sollten für diese Bildungsoffensive eingesetzt werden.

Ein großer Teil des Lernens findet heute nicht in Bildungseinrichtungen, sondern im natürlichen Lebensumfeld (beispielsweise in der Arbeit, der Freizeit oder im familiären Kontext) statt. Diese Kompetenzen sind bisher jedoch genauso unsichtbar wie nicht abgeschlossene Ausbildungen. Durch die Entwicklung eines systematischen Kompetenzerfassungssystems für die informell und nonformal erworbenen Kompetenzen von bildungsbenachteiligten Personen und dessen Anbindung an den Nationalen Qualifikationsrahmen könnten bestehende Kompetenzen sichtbar gemacht werden. Gerade die in Sozialen Unternehmen täglich gelebte Kombination von Arbeiten und Lernen ist eine Chance für bildungsbenachteiligte Menschen, um Bildungsabschlüsse auf alternativen Wegen zu erreichen, beziehungsweise bestehende Qualifikationen sichtbar zu machen.

bdv austria unterstützt die Pilotierung eines Kompetenzerfassungssystems für nonformal und informell erworbene Qualifikationen. Gleichzeitig müssen Soziale Unternehmen als Lernorte anerkannt werden und ihre personellen und finanziellen Ressourcen entsprechend erweitert werden.

4. Sonstige Forderungen

4.1. Die Neuregelung der Invaliditätspension muss für alle Versicherungssysteme gelten.

Derzeit gilt die Reform der Invaliditätspension nur für unselbständig Beschäftigte (ASVG-Versicherte), während Landwirte, Beamte und Selbständige nicht davon betroffen sind. Anstelle einer Harmonisierung des Systems erfolgt eine weitere Differenzierung, da zum Beispiel selbständig Erwerbstätige weiterhin befristete I-Pensionen beziehen können.

Für alle erwerbstätigen Menschen in Österreich sollten die gleichen Zugangsregeln für die Invaliditätspension gelten.

4.2. Es braucht eine neue von Respekt und Rücksichtnahme geprägte Form der Zusammenarbeit des AMS mit seinen KundInnen.

Die Zuweisung zu Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation und Reintegration muss an die individuellen Bedürfnisse der betroffenen Menschen angepasst werden und deren Wünsche berücksichtigen. Sie muss freiwillig und mit Zustimmung der betroffenen Menschen passieren, um bestmögliche Ergebnisse zu ermöglichen. Ebenso sollte die Verfügbarkeit von freien Plätzen nicht als maßgebliches Kriterium für die Zuweisung herangezogen werden.

Die Zuweisung zu arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen muss in Zukunft auf Freiwilligkeit beruhen und die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der betroffenen Menschen stärker berücksichtigen. Nur so können sozialökonomische Betriebe und gemeinnützige Beschäftigungsprojekte ihre volle Wirksamkeit entfalten.

 

bdv austria Artikelbild